Schutzengel

   
 

Grau – grau, so bot sich dem griesgrämigen, alten Mann der Blick aus dem verdreckten Fenster seiner Einzimmerwohnung. Es ist Ende Herbst und dichter Nebel liegt über der Stadt.
Draußen ist es kalt, der eisige Wind pfeift durch die kaputten Fenster – er friert in dem kalten Zimmer,
“wenigstens stinkt es nicht so stark, wenn die Nase kalt ist” dachte er sich immer, über seine im Müll erstickende Wohnung. Ein pures Chaos; ein Abbild seines Lebens.
Alle Erinnerungen an längst vergangene Tage.
Er nimmt eine Plastiktasche und setzt sich nieder um zu sehen was sich darin versteckt, denn hie und da fällt ein Stapel um und weckt dann so manche Erinnerung. Jetzt erst hat er Zeit, um über sein Leben nachzudenken.

Er hat selten die Ratschläge anderer angenommen. Schon gar nicht die, die wichtig waren und den Nagel auf den Kopf trafen. Er wusste immer alles besser. Er freute sich zeit seines Lebens auf den heutigen, ersten Tag seiner Pension, dann ist er endlich dem Beruf entflohen, den er so hasste. Das verursachte permanenten Stress. Er rechtfertigte es immer mit dem Verdienst. dabei hätte er es in der Hand gehabt, seine Einstellung zu ändern oder sich seinen Begabungen zu widmen. Stattdessen zog er seine Linie durch, hatte mehr Stress, verdiente mehr Geld und gab um so mehr aus. Jetzt hat er nichts mehr davon, außer seiner Krankheit.

Als er etwas weiches in der Tasche ertastet, wird dem glatzköpfigen, gebrechlichen Mann plötzlich warm ums Herz.
Er glaubte ein Relikt einer alten Liebe in Händen zu halten – die Erinnerungen sind verschwommen.
Es ist eine seiner drei wirklichen Lieben, die alle an seiner undurchdringlichen Mauer scheiterten.
Er hatte sie vor seinen Gefühlen errichtet, um seiner Rolle immer gerecht werden zu können, die er allen vorgespielt hat.
Er hatte viele Freunde, viele sieht er nicht mehr. Sie haben alle Familie und da fühlt er sich als notgedrungener Einzelgänger nicht wohl. Zwei Freunde hatten ihn schon immer durchschaut und hielten dennoch zu ihm, weil sie sein weiches Herz erkannten.
Darunter auch sie, ihr gehört der Inhalt der Plastiktasche.

Es war eine schöne Zeit. Sie erfüllte alles, was er sich immer von einer Partnerin gewünscht hatte. Er beneidete sie sogar um ihren Beruf. Sie war eine offenherzige, liebe und starke Persönlichkeit mit einem engelhaften Aussehen.
Für ihn ging sie nicht, sonder sie schwebte immer.
Je mehr er sie liebte umso größer wurde die Angst, dass er sie verlieren könnte.
In Wirklichkeit hatte er Angst sie könnte seine Mauer zerstören, denn sie hatte die Fähigkeit, Fragen zu stellen!
Fragen, die auch er immer seinen Freunden gestellt hat, um ihnen beim Nachdenken zu helfen.
Doch er erkennt erst jetzt, dass sie die gleiche Gabe hatte. Ihm läuft es kalt über den Rücken bei dem Gedanken sie könne recht haben.
Er versucht sich zu erinnern.
Das Erste was ihm einfällt ist die Trennung. Wie immer verließ auch sie ihn und er hatte wieder recht bekommen. So dachte er immer, denn er konnte doch niemals Schuld haben. Dabei hat sie alles versucht um ihn wach zu rütteln. Doch er empfand die Fragen als Angriff auf sich und nicht als Rettungsring. Somit blockierte er und hörte nicht zu. Er verstand sie nicht, weil die Ebene, die sie benutze, eine emotionale war. Er erkannte die Worte, doch verstand den Sinn nicht.
Er gab ihr alles, doch es war nicht genug. Seine Gaben kamen zwar von Herzen, aber mit seinen Gefühlen blieb er hinterm Berg.

Da schoss ihm eine Zeile durch den Kopf, die sie an ihn gerichtet hatte:
Könnte es sein, dass sie ihn schon immer durchschaut hatte?

Es ist so! – entsetzt starrt er aus dem Fenster.
Er beginnt die Wahrheit zu erkennen. “Warum ist mir das nicht schon länger aufgefallen?”
Was hätte er nicht alles anders gemacht. Nur mal über seine Gefühle mit ihr zu sprechen, statt sich nach der Trennung nicht mehr zu melden. Darauf hätte sie immer gehofft. So etwas machte er nie! Keine Briefe oder Gedichte wollte er verfassen. Seine Süße gab ihren Gefühlen hingegen freie Hand.
Er las nur eines ihrer Gedichte, die vor seiner Zeit entstanden sind. Diese Zeilen berührten ihn, jedoch nicht freudig!
Es war für ihn ein ohnmächtig fühlendes Gedicht. Er konnte den Schmerz fühlen, den sie damals erlitten hatte. Das machte ihn auch traurig und das wollte er nicht, denn er war es in Wirklichkeit immer!
Traurig darüber versagt zu haben. Doch dieses Eingeständnis könnte er sich nie machen – er sah es nicht!
So sehr hatte ihn seine Rolle schon eingenommen. Und jetzt dieses Gefühl der Erkenntnis. Seine Kleine wartete all die Jahre vergebens auf einen Funken des Verstehens von ihm.
Jetzt ist sie unerreichbar für ihn geworden. Sie hat ihr Glück gefunden. Es war nicht leicht damals und sie trennten sich sogar einmal. Sie blieb ihm sogar in der Trennung treu, denn ihr jetziger Mann hatte ihr zugehört und zeigte es ihr auch, bis sie schließlich das wurden, was der Alte sich immer gewünscht hat.
Ihr Mann hatte sich helfen lassen, ordnete sein Leben neu und wurde glücklicher. Dazu nahm er sogar Therapiestunden an.
Ob er es damals selber erkannt hat oder nicht, bleibt für den alten Single ein Rätsel. Aber er weiß jetzt, er würde jetzt das selbe tun! Doch damals zeigte er keinerlei Einsicht oder Verständnis. Dabei hatte er sie und die Lösung immer vor seinen Augen.
“Ich hätte sie nur fragen müssen, ob sie mir beistehen würde und mir hilft mein Leben mit ihr in Einklang zu bringen!” dachte er sich. Er weiß jetzt, dass er nur kurz über ihre Worte nachdenken hätte müssen, stattdessen hat er alles zerpflückt und analysiert was sie gesagt hat – sie hatte so recht!
Er wird traurig unter der Last der Erkenntnis, dass sein Leben hätte glücklich sein können. Sie war und ist seine einzige wahre Liebe, die ihn auch geliebt hat. Diese Beziehung hätte ihm alles geben können und er hätte alles geben sollen, das wird ihm heute erst klar.

Doch jetzt ist es zu spät.

Eingehüllt in eine schäbige, verfilzte Decke, die er sich als Erinnerung an seine zwei Katzen aufgehoben hat, zittert er zusammengekauert vor dem kalten Ofen und weint bitterlich – fest umklammert hält er zwei neue blaue Fliespantoffeln.
“Ich weiß, dass du mein Schutzengel warst”, war sein letzter Gedanke, dann schlief er vor Erschöpfung ein.

© ein Freund_2004_A