Die Brücke am Fluss

   
 

Die junge Frau springt aus ihrem warmen Bett. Sie sieht durch ihr Fenster die Sonne aufgehen, ganz weit hinter dem Bergkamm. Sie zieht ihre Füße zurück, denn der Boden in ihrer Stube ist noch kalt. Doch dann steht sie auf, streift ihr schlichtes Kleid über den Körper und eilt aus ihrer Kammer hinaus. Der Duft von Tee und der Geruch des Tabaks liegen  im Raum, auch wenn es schon vor Jahren war, erinnert sie sich doch noch genau daran. Dabei spiegelt sich ein wohliges Gefühl in ihrem Gesicht und sie lächelt.  

Sie verlässt das Haus, läuft über den Garten, Richtung Wald. Sie lacht vor Glück und springt über kleine, abgeschlagene Bäume. Läuft unermüdlich weiter, durch das Waldstück, als sie schon das laute Dröhnen und Rauschen des Flusses hört. Am Waldesrand angekommen, bleibt sie völlig außer Atem stehen. Immer noch strahlend schweift ihr Blick am Fluss entlang zur Brücke. „Wird er heute kommen?“, fragt sie sich im Stillen.

Jeden Morgen läuft sie an diese Stelle, wo ihr schon vor langer Zeit ihr Liebster versprochen hatte, er würde zu ihr zurückkommen, sie niemals wieder verlassen und immer bei ihr bleiben. Wenn sie fest daran glauben würde, käme er über die Brücke und ihr Traum wäre erfüllt, denkt sie bei sich.

Sie wartete immer bis die Sonne die Brücke hell erleuchtete und dann ging sie wieder mit der Hoffnung, eines Tages ihren Liebsten entgegenlaufen zu dürfen. Um ihn im Schein der Sonne mitten über dem reißenden Wasser für immer zu spüren. Die Liebe zu ihm war ihr Lebenselixier geworden. Ihre Hoffnung war ungebrochen.

Ein neuer Tag am Ufer und als sie sich schon umdrehen will um zurück zu gehen, sieht sie einen Schatten am Anfang der Brücke. Er wird größer und sie erkennt mit glücklich, strahlenden Augen den Mann, den sie so sehr liebte. Sie läuft ihm entgegen um ihn in ihre Arme zu schließen und nie wieder loszulassen. Endlich ist er da.

Plötzlich fällt ein Schuss im Wald, es ist wohl ein Jäger, der sein Wild erlegt. Erschrocken von dem lauten Hall, gleiten ihre Füße über den nassen Brückenrand hinab, sodass sie über die Böschung in den Fluss fällt. Der rasende Strom reist sie mit sich. Ihre letzten Gedanken sind bei ihrem Liebsten und sie lächelt, weil sie die Hoffnung niemals aufgab und er doch letztendlich zu ihr zurückkam.

© 6.4.2005
korr.2010/2019